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Auf die harte Tour

Ein Paar Schuh ist ein Paar Schuh, solange es passt. Wenn nicht, steigen Fragen auf: Passen wir nicht zusammen? Habe ich nicht lange genug gekämpft? Antworten finden auf dem Zittauer Jakobsweg. 

Dass ich jemals begehrende Blicke durch ein Schaufenster von «Deichmann» werfen werde, hielt ich bislang auch nicht für möglich. Jetzt aber läuft in meinem Kopfkino eine Werbesendung mit dem schlichten Monolog: «Oh Gott, oh Gott: Nike-Turnschuhe mit Sohlen so weich wie Marshmallows. Und das für nur 59.90!»

Doch ich schreite weiter in meinen italienischen Maßschuhen durch die Altstadt von Görlitz. Jeder Schritt ist ein Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das zähe Leder drückt schmerzhaft auf die äußeren Knochen. Die mittleren stoßen an der Spitze an. An den Fußsohlen pulsiert wegen der Enge das Blut. Die Fersen sitzen nicht. Die Sohlen sind hart wie Teer. Meinen Plan, diese renitenten Schuhe in einem «Walk of Pain» gewaltsam einzulaufen, halte ich schon auf den ersten Metern für nicht mehr so genial wie auch schon. Mein Tagesziel, ein Kloster zwanzig Kilometer südlich von Görlitz, scheint mir sinnlos weit weg, als ich auf den Jakobsweg einbiege. Was, wenn die Schuhe einfach zu klein sind? Kann man sich dabei die Knochen brechen?

Vielleicht muss ich kurz ausführen, wie ich zu diesen Schuhen kam, denn Teile ihrer Produktionskette liegen in beunruhigender Dunkelheit. Ich war in einem Dorf auf Sardinien, als ich einen Schuhmacher aufsuchen musste. Meine Wanderschuhe zeigten akute Anzeichen von Zerfall, den es zu bremsen galt. Der Schuhmacher jedoch hatte neben seiner Werkstatt ein überraschend schönes Geschäft für traditionelles Lederhandwerk. Der Laden wurde in einer Zeit gegründet, als lederne Patronengürtel noch Berufskleidung waren. Aber er, der Schumacher Mitte Vierzig, hatte ihn ins 21. Jahrhundert übersetzt, mit Logo und begehbarer Werkstatt für Besucher, in der, wenn ich mich recht erinnere, eine Nähmaschine das einzige Zugeständnis an die Moderne war.

In einem Regal standen auch Lederschuhe. Nichts Filigranes. Eher wie Stiefel. Bäuerlich. Ich verstehe kein Italienisch. Aber mit Händen und vor allem Füssen sowie universal verständlichen Zeichen von Stolz, vermittelte mir der Schuhmacher, dass er die selbst schneidere. In seiner Werkstatt auf dem Dach. Nach Maß. Für 200 Euro. Porto nach Berlin inklusive. Ich dachte: «Oh Gott, oh Gott: Schuhe nach Maß, und das für nur 200 Euro!»

Er vermaß meine Füsse und kritzelte ein paar Zahlen in ein zerfleddertes Buch. Daneben schrieb er: «Berlino». Ich fand, es ging etwas sehr schnell. Bei seinen Gesten war mir auch nie so recht klar, ob er ein begabter Schuhmacher oder ein begnadeter Schauspieler war und ob ich hier gerade Teil einer langen Tradition oder eines plumpen historischen Reenactments wurde. Aber was wusste ich schon? Mit dem unguten Gefühl, das man als deutscher Medienkonsument bei Investitionen in Südeuropa hat, ließ ich 200 Euro Risikokapital da und reiste ab. Doch der Süden lieferte so zuverlässig wie Zalando. Ich zeigte meinen Neuerwerb gleich einem Schuhmacher in meiner Berliner Nachbarschaft, der ebenfalls nach alter Tradition maßfertigt (wenn auch in einem neuen Laden, der sich in meinem mässig gentrifizierten Stadtteil leider nicht lange hielt). Er lobte sofort ihre Qualität. «Echt gutes Leder und wirklich gut genäht», meinte er. Das Wort «Schnäppchen» fiel, als ich beiläufig den Preis erwähnte.

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Die Schuhe hatten nur einen Makel: Sie passten nicht. Schon von der Form her wirkten sie an meinen Füssen wie Fremdkörper. Wie eine Xenomelie-Patient hätte ich sie am liebsten abgestossen. Versuche, sie im Alltag einzulaufen, endeten immer wieder blutig. «Das dauert», sprach mir der Berliner Schuhmacher mit lebensbejahendem spanischem Akzent und beruhigender ärztlicher Gewissheit gut zu. Ich ließ sie dehnen. Vergebens. Ich war kurz vor dem Aufgeben, als ich beschloss, das Problem auf die harte Tour zu lösen: Wandern, bis sie entweder passen oder es medizinisch gute Gründe gibt, sie zu entsorgen.

«Vielleicht konnte dieser dilettantische Schuster seine eigene Schrift nicht mehr lesen», geht es durch meinen Kopf, als ich auf der Hauptstraße beim «Kaufland» zum dritten Mal nach nur drei Kilometern Halt machen muss. Der Schmerz hat jetzt auch die Beine erfasst. «Oder dieser sardische Schlawiner schickte mir ein normales Paar Schuhe in ungefähr meiner Größe.» Rückblickend schäme ich mich für diese niedrigen Unterstellungen.

Ich hielt den Zittauer Jakobsweg von Görlitz nach Prag für ideal für mein Unterfangen. Zum einen ist Schuhe Einlaufen eine christliche Erlösungsgeschichte: Lange Pein und Hoffen auf Erlösung im ewigen Schuh. Meine Nikes und New Balances sind mir zwar lieb, aber es sind schnell vergängliche Freuden, One-Summer-Stands im besten Fall, deren Leuchten schon nach den ersten Wochen verblasst. Maßgeschneiderte Lederschuhe hingegen sind eine langsam, Schritt für Schritt wachsende Bindung, der man vielleicht sogar Fleisch und Knochen opfern muß für die ewige Liebe. Deshalb Pilgerweg. Andererseits wanderte auf diesen Wegen schon der berühmteste deutsche Schuhmacher, der Mystiker Jakob Böhme. Von seinem Hauptwerk, der «Aurora» aus dem 17. Jahrhundert, die auch an das Gute im Menschen glaubt, erhoffte ich mir Gegenargumente gegen die giftigen Gedanken, die ich gegen den Schuhmacher und sein sadistisches Machwerk hegte.

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Am Strand des eben erst fertig gestellten Berzdorfer Sees – seit Februar ist die riesige Kohlengrube geflutet – ziehe ich zum ersten mal die Schuhe aus. Wo mein kleiner Zeh war ist jetzt ein großer. Der Schuhmacher in Berlin hat mir einen hochprozentigen Spray auf den Weg gegeben, der das Leder geschmeidig machen soll. Ich besprühe die Schuhe und schmiere auch meine Füsse nochmals großzügig mit dem «Compeed Anti-Blasen Stick» ein.

Dem Ufer des Berzdorfer Sees entlang führt ein endloses schwarzes Band mit weißen Streifen von blödsinniger Monotonie. Anhand von diesem «Asphalt-Rundweg» werden Studenten der Verwaltungswissenschaft wohl künftig die Definition von «Befestigter Rad- und Fussweg» lernen. Weil der See neu ist, fehlt es noch etwas an abwechslungsreicher Botanik. Doch die Stumpfsinnigkeit hat ihr Gutes. Ich gerate in eine Art Trance. Die Schmerzen lassen zwar nicht nach, aber sie beginnen zu langweilen. Ich höre mit der Zeit nur noch die Schuhe auf dem Asphalt: «Klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack, klack-klack…»

Das Kloster St. Marienthal ist so zuckersüß und rosa-weiß, man glaubt eine Hochzeitstorte zu betreten. Mein Zimmer – einst eine Klosterzelle – ist frisch renoviert und beruhigend schlicht. Ich habe Zeit, meine Niederlage zu verarbeiten und meine Wunden zu pflegen. Am Ende des Sees hatte ich kapituliert, nach nur zehn Kilometern. Jeder Schritt stach in die Kniekehle. Zum Kloster fuhr mich die Ostdeutsche Eisenbahn. Meine bösen Gedanken den Schuhmacher betreffend sind im Laufe des Tages einer bohrenden Frage gewichen: «Passen die Schuhe nicht oder habe ich nicht lange genug gelitten?» Eine universelle Antwort wäre eigentlich ein Schlüssel zu vielen Lebensfragen. Passen wir nicht zusammen oder haben wir nur noch nicht lange genug gestritten? Mache ich die falsche Karriere oder habe nur noch nicht lange genug gekämpft? Der Schuh, er steht plötzlich für etwas sehr großes.

Doch weder die Bibel noch die «Aurora» wissen Antwort. Ich frage Klosterschwester Anna. Sie bringt mich auf den Boden der Vernunft zurück. «Wenn die Fusswärme das Leder aufgeweicht hat, aber die Schuhe noch immer nicht passen, würde ich sie nicht weiter tragen», rät sie. Man müsse Gott zwar manchmal ein Opfer bringen, aber das dürfe den Körper nicht schädigen. Von Kasteiung halte sie wenig. Ich stimme prinzipiell zu.

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Der Jakobsweg führt nun als pittoresker Fussweg einem Fluss und der polnischen Grenze entlang durch den Wald. Ich habe mich am zweiten Tag für das Weitergehen entschieden. Im Klostergarten der Bibelpflanzen wäre ich zwar fast in den Dornbusch gestürzt. Aber ich gelangte nach einer sehr stillen und dunklen Nacht zur Erkenntnis, dass Schmerzen zwar ein Grund zum Aufgeben sind, aber nie nach nur einem Tag. Das ist bloß die Prothese einer Antwort auf eine existentielle Frage. Aber immerhin überrascht mich heute mein großer Zeh damit, dass er nicht mehr drückt. Überhaupt sind die Schmerzen erträglicher als am Vortag.

Auf einem Feldweg muss ich dann aber doch eine Weile barfuss gehen. Auf getrockneten Traktorenspuren zu schreiten ist übrigens wie Fussmassage. Und dann darf ich sogar noch kneippen. Ein kleiner Fluss will einem Atheisten wie mir, der auf einem Pilgerweg nur nach einem günstigen Maßschuh strebt, nicht weichen, verständlicherweise. Barfuss gehe ich also durch das kalte Wasser und schlüpfe wieder in meine Schuhe.

Das Wunder geschieht an der am wenigsten göttlichen Passage dieses Pilgerwegs, im Industriegebiet von Zittau. Ich werde wahrscheinlich nie gläubig, aber ein bisschen beginnt man nach einem solchen Erlebnis schon an seinem Atheismus zu zweifeln. Sind meine Füsse im Wasser eingegangen? Sind meine Nerven abgestumpft? Es begann mit dem kleinen rechten Zeh und weitete sich dann über die ganzen Füsse aus. Ich ziehe die Bändel nochmals fester, sodass die Ferse sitzt. Die Schmerzen, sie weichen, und die Schuhe, sie beginnen zu passen.

07

«Weiter wandern würde ich vorerst nicht mehr», meint der Orthopäde bei «Gute Schuhe» in Zittau. Wie ein indischer Guru hat er aus meinen Schuhen sämtlich Schmerzen abgelesen, die mir das Leder auf den letzten zwanzig Kilometern zugesetzt hat. Aber er ist zuversichtlich. Eine halbe Nummer könne man noch Dehnen, dann nochmals etwas einlaufen. Dann würden die sitzen.

PS: Er sollte Recht behalten.

Erschienen leicht redigiert in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

 

 

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