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Das Jahrhundertbuffet: Warum wir heute so essen, wie wir essen

23. Juli 2018

herrfischer

Für die Infografik-Seite der aktuellen ZEIT habe ich versucht, die deutsche Ernährungsgeschichte des 20. Jahrhunderts in zehn Bildern und zehn Jahrzehnten zu erzählen.  Allezhopstudio hat sie grossartig fotografisch interpretiert. Ernährungshistoriker Uwe Spiekermann von der Universität Göttingen stand inhaltlich beratend zur Seite. Enjoy:

1920er – Ein neuer Trend kommt auf: Naturkost aus Reformhäusern, von denen in Deutschland über 2000 entstehen. Sie verkaufen Fruchtpasten, Soja, Kokus. An der Hauptmahlzeit ändert sich noch wenig. Es herrscht immer noch die deutsche Dreifaltigkeit: Fleisch, Kartoffeln und ein variierendes Gemüse. Sie wird nur etwas besser, internationaler und leichter.

1930er – Der Nationalsozialimus drängt die internationale Küche wieder zurück, der Spargel muss der Schwarzwurzel weichen. Essen aus dem gleichen Topf wird als Gemeinschaftsideal ideologisch aufgeladen, hat aber auch praktische Gründe: Ein Drittel der Deutschen isst mittlerweile in Kantinen.

1930er – Im Hintergrund verändert sich viel: Produkte werden mit Soja oder Eiweiss angereichert und Kühlketten etabliert. Spinat ist das erste Tiefkühlprodukt (wenn auch erst nur in Mensen). Fisch kommt auf. Mehr als die Hälfte der Modernisierungsinvestitionen der Nationalsozialisten fliessen in den Agrar- und Lebensmittelsektor. Aber noch immer gibt man rund fünfzig Prozent des Einkommens für Lebensmittel aus. Grund sind regulierte Preise.

1950er – Konserven werden populär, urlaubsbedingt aber auch die italienische Küche. Konseqeunz: Dosenravioli. Fleisch- und Gemüsekonsum steigen, bis in die achtziger, neunziger Jahre auf rund 65kg, beziehungsweise 80kg. Grund ist auch verbesserte Kühl- und Tiefkühltechnik.

1960er – Die Kartoffel gerät unter Druck. Zuwanderung, Reisen, Grenzöffnung und Fertigsaucen verhelfen vor allem der italienischen Küche zum Durchbruch in Deutschland. Sie passt zum Zeitgeist, ist einfach und schnell. Durch steigende Reallöhne gibt die Mittelschicht nur noch dreissig Prozent für Essen aus.

1970er – Der Europäische Wirtschaftsraum verändert den Speiseplan grundlegend: Käse, Salate, Gemüse und Früchte aus ganz Europa sind fortan stets und günstig erhältlich. Die Käsetheke wird divers und ihr Umsatz steigt von 4kg pro Jahr 1950 auf 10kg 1970 (heute sind es 25kg). Außerdem beginnt das Hähnchen seinen Aufstieg an die Spitze der deutschen Fleischnahrungskette.

1980er – Die bürgerliche Oberschicht kann sich kulinarisch nicht mehr durch Masse abheben. Kennerschaft kommt stattdessen auf, regionale wie kosmopolitische. Die Küche wird zum vorzeigbaren – und teuren – Wohnbereich, wo man auch Gäste empfängt. Die Ausgaben für Lebensmittel in der Mittelschicht sinken auf die heutigen rund 15 Prozent und weniger.

1990er – Übersee-Tourismus und Zuwanderung globalisieren auch die Küche. Chinesisches Essen etwa – oder zumindest das, was man im Westen dafür hält und sich industriell verarbieten lässt – gibt es erst in Resaurants, dann auch als Fertigprodukte im Haushalt.

2000er – Biologische und regionale Produkte treten aus der Öko-Ecke in den Mainstream. Die Anzahl Öko-Höfe verdoppelte sich seit der Jahrtausendwende, auf heute rund zehn Prozent aller Betriebe. Ziel der Bundesregierung sind allerdings zwanzig Prozent.

2010er – Der Fleischkonsum ist leicht rückläufig, vor allem in den bürgerlichen Schichten. Waren es in den neunziger Jahren noch rund 65kg, sind es 2017 nicht mal mehr sechzig. Vegaterische und vegane Küche gilt als angesagt. Die Avocado erlebt einen Boom. Wichtig auch: Essen muss fotogen sein und einem selbst repräsentieren. #foodporn

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