Das Magazin Katapult wirft mir und dem Hoffmann und Campe-Verlag Ideen-Klau vor. Der Wutanfall von Chefredakteur Benjamin Fredrich klingt dabei ein bisschen wie ein enttäuscht tobender Ex. Darauf möchte ich kurz reagieren, in aller Ruhe.
Hoffmann und Campe hat 2019 mit Katapult das Buch «100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern» herausgebracht. Die Idee zu solch einem Buch kam vom Verlag. Das Konzept entwickelten die beiden gemeinsam. Es war ihr gemeinsames Kind. Der Verlag ging finanziell ins Risiko. Er hätte dabei viel Geld verlieren können. Das ist im Literaturbetrieb normal.
Das Buch wurde ein großer Erfolg. Doch dann haben sich die beiden getrennt. Katapult wollte eine ungewöhnlich hohe Umsatzbeteiligung – und ist dann zu Suhrkamp gegangen. Hoffmann und Campe fand das nicht so gut. Und fragte mich, ob ich eine Fortsetzung des Buches machen wolle. Neue Liebe, neues Glück, für beide.
Unser Buch heißt «Gute Karten: Deutschland, wie Sie es noch nie gesehen haben».
Wir haben eine Nachfolge gemacht, klar. Unser Anspruch jedoch war: Wir bauen auf dem Konzept auf, das Hoffmann und Campe gemeinsam mit Katapult entwickelt hat – aber wir kopieren keine Ideen. Bis auf wenige Ausnahmen, die wir in den Fußnoten auch so kenntlich machen, sind alle Karten-Einfälle und Recherchen von uns. Von Katapult sind keine. Ich recherchiere seit über zehn Jahren als Datenjournalist Karten und Statistiken und wir haben für das Buch monatelang akribisch und mit Herzblut recherchiert.
Herausgekommen ist ein Buch, auf das wir stolz sind, das sehr gute Presse erhalten hat und im Verkauf sehr gut läuft. Wer möchte, blättert in der Buchhandlung seines Vertrauens durch beide Bände und entscheidet sich für den, der ihn mehr ins Stutzen und Staunen versetzt.
Es verwundert, dass sich ausgerechnet Katapult seit einiger Zeit immer wieder über Ideen-Klau beschwert. Fredrich schreibt zwar in seinem Wutanfall etwas kleinlaut, er habe früher auch selbst Ideen und Karten geklaut. Nur ist das ist untertrieben, um nicht zu sagen: Bullshit.
Katapult hatte immer wieder recht freizügig Ideen von anderen kopiert und als die eigenen verkauft. Selbst das lustige Titelblatt des «100 Karten»-Buchs ist einfach ein alter Geografen-Witz von Reddit, den Katapult lediglich übersetzte:
Der Datenjournalismus hat stets davon gelebt, dass man auf Vorgänger aufgebaut und sie erweitert hat. Katapult hat davon stets profitiert und den Datenjournalismus mit nach vorn gebracht. Ich kann verstehen, dass Fredrich wütend ist und dass er und seine Leserinnen und Leser sich nun an mir persönlich abarbeiten müssen. Aber so ist das nun einmal nach Trennungen.
Für die Infografik-Seite der aktuellen ZEIT habe ich versucht, die deutsche Ernährungsgeschichte des 20. Jahrhunderts in zehn Bildern und zehn Jahrzehnten zu erzählen. Allezhopstudio hat sie grossartig fotografisch interpretiert. Ernährungshistoriker Uwe Spiekermann von der Universität Göttingen stand inhaltlich beratend zur Seite. Enjoy:
1920er – Ein neuer Trend kommt auf: Naturkost aus Reformhäusern, von denen in Deutschland über 2000 entstehen. Sie verkaufen Fruchtpasten, Soja, Kokus. An der Hauptmahlzeit ändert sich noch wenig. Es herrscht immer noch die deutsche Dreifaltigkeit: Fleisch, Kartoffeln und ein variierendes Gemüse. Sie wird nur etwas besser, internationaler und leichter.
1930er – Der Nationalsozialimus drängt die internationale Küche wieder zurück, der Spargel muss der Schwarzwurzel weichen. Essen aus dem gleichen Topf wird als Gemeinschaftsideal ideologisch aufgeladen, hat aber auch praktische Gründe: Ein Drittel der Deutschen isst mittlerweile in Kantinen.
1930er – Im Hintergrund verändert sich viel: Produkte werden mit Soja oder Eiweiss angereichert und Kühlketten etabliert. Spinat ist das erste Tiefkühlprodukt (wenn auch erst nur in Mensen). Fisch kommt auf. Mehr als die Hälfte der Modernisierungsinvestitionen der Nationalsozialisten fliessen in den Agrar- und Lebensmittelsektor. Aber noch immer gibt man rund fünfzig Prozent des Einkommens für Lebensmittel aus. Grund sind regulierte Preise.
1950er – Konserven werden populär, urlaubsbedingt aber auch die italienische Küche. Konseqeunz: Dosenravioli. Fleisch- und Gemüsekonsum steigen, bis in die achtziger, neunziger Jahre auf rund 65kg, beziehungsweise 80kg. Grund ist auch verbesserte Kühl- und Tiefkühltechnik.
1960er – Die Kartoffel gerät unter Druck. Zuwanderung, Reisen, Grenzöffnung und Fertigsaucen verhelfen vor allem der italienischen Küche zum Durchbruch in Deutschland. Sie passt zum Zeitgeist, ist einfach und schnell. Durch steigende Reallöhne gibt die Mittelschicht nur noch dreissig Prozent für Essen aus.
1970er – Der Europäische Wirtschaftsraum verändert den Speiseplan grundlegend: Käse, Salate, Gemüse und Früchte aus ganz Europa sind fortan stets und günstig erhältlich. Die Käsetheke wird divers und ihr Umsatz steigt von 4kg pro Jahr 1950 auf 10kg 1970 (heute sind es 25kg). Außerdem beginnt das Hähnchen seinen Aufstieg an die Spitze der deutschen Fleischnahrungskette.
1980er – Die bürgerliche Oberschicht kann sich kulinarisch nicht mehr durch Masse abheben. Kennerschaft kommt stattdessen auf, regionale wie kosmopolitische. Die Küche wird zum vorzeigbaren – und teuren – Wohnbereich, wo man auch Gäste empfängt. Die Ausgaben für Lebensmittel in der Mittelschicht sinken auf die heutigen rund 15 Prozent und weniger.
1990er – Übersee-Tourismus und Zuwanderung globalisieren auch die Küche. Chinesisches Essen etwa – oder zumindest das, was man im Westen dafür hält und sich industriell verarbieten lässt – gibt es erst in Resaurants, dann auch als Fertigprodukte im Haushalt.
2000er – Biologische und regionale Produkte treten aus der Öko-Ecke in den Mainstream. Die Anzahl Öko-Höfe verdoppelte sich seit der Jahrtausendwende, auf heute rund zehn Prozent aller Betriebe. Ziel der Bundesregierung sind allerdings zwanzig Prozent.
2010er – Der Fleischkonsum ist leicht rückläufig, vor allem in den bürgerlichen Schichten. Waren es in den neunziger Jahren noch rund 65kg, sind es 2017 nicht mal mehr sechzig. Vegaterische und vegane Küche gilt als angesagt. Die Avocado erlebt einen Boom. Wichtig auch: Essen muss fotogen sein und einem selbst repräsentieren. #foodporn
Für unsere letzte Daten-Seite in der finalen Ausgabe von Neon haben wir, ja: Aufstiege, Abstürze und Auferstehungen gesammelt.
Kaum jemand kennt William Playfair. Dabei sollte der Schotte so berühmt sein wie Pablo Picasso. Die Bilder, die Playfair schuf, zeigen oft dramatische Szenen. Sie handeln von Aufstiegen und Abstürzen. Manche schlagen auf die Stimmung ganzer Gesellschaften.
Playfair, ein Ingenieur, erfand 1786 das Kurvendiagramm.
An einem dieser Kurvendiagramme litten wir in den vergangenen Jahren ständig, da gibt es nichts zu beschönigen: den Verkaufszahlen von NEON. Ein Trost war es dann manchmal schon, auf Kurven wie die von StudiVZ oder Blackberry zu schielen. Oder andere schleichen de Trends zu beobachten, schwindende SPD Mitgliedschaften etwa. Sogar der Bierkonsum lässt nach, in Deutschland!
Zeiten ändern sich nun mal und manchmal ist man schwächer als sie.
(Fehler auf der Grafik, im Heft ist er korrigiert: Es handelt sich nicht um den Konsum – der liegt heute etwas unter 100 Liter – sondern um die Produktion)
Und doch sind Statistiken keine Schicksale.
Als Lego zu Beginn der Nullerjahre in eine Krise stürzte, dachten viele, dass es das jetzt gewesen sei, dass Kinder künftig eben lieber an Bildschirmen spielen als mit Plastikbauklötzen. Dabei stand der Lego-Boom erst noch bevor. Dem Management gelang es, Lego ins 21. Jahrhundert zu überführen, durch Rückbesinnung auf die Wurzeln und Entwicklung neuer Ideen, wie David Robertson und Bill Breen in „Das Imperium der Steine“ beschreiben.
Ja selbst wenn eine Kurve bei null an gelangt ist, so gut wie tot, schwingt sie sich manchmal wieder in ungeahnte Höhen auf. Damals, als NEON gegründet wurde, erreichten die Plattenverkäufe ein historisches Tief, und Udo Lindenberg brachte ein Album heraus, das seinen stetigen Abstieg in den Charts nochmals dramatisch beschleunigte. Und heute? Sind Platten so gefragt wie Ende der 80erJahre, und Udo Lindenberg landete – zum ersten Mal in seiner Karriere – mit seinen Alben auf der Eins. Stärker als die Zeit.
Illustration: Laura Edelbacher
Quellen: Neon und StudiVZ: IVW und G+J; Blackberry: Statista; Lindenberg: Offizielle Deutsche Charts; Lego: Lego Group; Vinyl: RIAA; SPD: Bundeszentrale für politische Bildung und Statista
Erschienen in der NEON
Illustration: Laura Edelbacher
Methode: Median-Alter
Quellen: LifE-Studie, BZgA und eigene Berechnung (Sex), Statistisches Bundesamt und eigene Berechnung, Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, KfW Research (Unternehmen), Jim C. Hines (Roman), vasektomie.de, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Eigenheim), Robert Koch-Institut und eigene Berechnung (Burn-out), Bundestag und eigene Berechnung, GfK (Kreuzfahrt), nobelprize.org, Paula Stephan/Sharon Levin (Nobelpreis-Durchbruch)
(basierend auf Instagram-Daten)