
Ruinierte Reise
Mit fünf hatte ich einen Fotoapparat erhalten, um auf einer Griechenland-Kreuzfahrt Bilder zu schiessen. 20 Jahre später hatte ich die Fotos wieder entdeckt und realisiert: Die grösste Ruine auf der Reise war nicht der Palast von Knossos, sondern das schrottreife Schiff. Die Geschichte eines Untergangs.
Der Knirps auf dem Foto bin ich. Das Schiff, auf dem ich stehe, ist mittlerweile gesunken. Die Reederei, der er es gehörte, wurde aufgelöst. Das Land, in dem ich mich befinde, steht heute vor dem Bankrott. Das Fotolabor, von dem der Film in meiner Kamera stammte und das die Reise organisierte, gibt es nicht mehr. Über den Verbleib meiner Badehose weiss ich nichts.
Es ist der 9. Mai 1988. Unser Schiff – die TSS Atlas – befindet sich auf der Überfahrt von Santorini nach Kreta, wo wir die Ruinen des Palastes von Knossos besichtigen werden. Meine Mutter, Lehrerin, hatte die Griechenland-Kreuzfahrt gebucht, um uns an die Wiege der westlichen Kultur zu führen (zumindest sagt sie das heute). Aber schaut man sich die Fotos an, die ich damals geschossen habe, muss man wohl sagen: Ziel verfehlt. Die Bedeutung von Ruinen und den Zweck ihrer Besichtigung habe ich offenkundig nicht erfasst. Kaum eine abgebrochene Säule habe ich fotografiert. Die einzigen Skulpturen auf meinen Fotos sind Rentnerinnen aus der französischen Schweiz mit rot-weissen «Fotolabo Club»-Hüten. Dem 3500 Jahre alten Delphin-Fresko im Palast von Knossos hatte ich die gleiche Beachtung geschenkt wie dem Fussball-Poster in der Altstadt von Mykonos, Jahrgang 1987.
Die einzige ägäische Ruine, die einen bleibenden Eindruck auf den Fotos hinterlassen hatte, war unser Schiff. Ein abgewrackter Säufer, anders kann man es nicht nennen. Ruiniert und marode, in den 50er-Jahren mal ein schnittiger Kahn, der den Atlantik im Pendelverkehr überquerte und mit dem Flugverkehr konkurrierte. Aber die besten Tage hatte er hinter sich und die Tage der Reederei, der er gehörte, Epirotiki Line, waren gezählt. Auch wenn es damals noch niemand wusste: Die Kreuzfahrt-Branche stand vor einer Revolution. Von Miami in Florida aus war eine Reederei namens Carnival gerade dabei, das Kreuzfahrtschiff neu zu erfinden. Drei «Megaliner» liessen ihre Besitzer – ein Vater und sein Sohn – vom Stapel laufen. Kreuzfahrt sollte nicht mehr nur ein Variante des Personentransports sein. Ein Kreuzfahrtschiff sollte ein perfekt vermarktbarer Ferienort auf dem Meer werden.
Die TSS Atlas hingegen war eine umgebaute Fähre, mit der Epirotiki – neben vielen anderen Reederein – versuchte, Kreuzfahrten zu verkaufen, weil Personentransport übers Meer niemand mehr brauchte. Gelungen ist der Branchenwechsel allerdings nicht. Unsere Kabine auf dem Unterdeck, Innenseite, lief nach jeder Dusche feucht an. Das bestellte Brötchen beim Frühstück hatte Schimmel. Das zwei auch. Beim dritten gaben wir auf.
Epirotiki Line sollte kurz nach unserer Reise drei seiner Kreuzfahrtschiffe verlieren. Das erste sank nach einer Kollision, das zweite nach einer Explosion und mit dem dritten – der Oceanos – sollte der Kapitän 1991 in die Seefahrtsgeschichte eingehen. Als das Schiff vor der Küste Südafrikas sank, stieg er mit seiner Familie in ein Rettungsboots und liess sämtliche Passagiere zurück. An Land rechtfertigte er sich: «When I give the order to abandon the ship, it doesn’t matter what time I leave. Abandon is for everybody. If some people want to stay, they can stay.» Die Küstenwache rettete am Ende alle 225 Passagier aus den Fluten. Koordiniert wurde die Aktion vom Bord-Gitarristen und vom Zauberer.
Vielleicht ist es bloss eine Metapher, wahrscheinlich aber historisches Gesetz: Wenn die Kapitäne nur noch ins Wasser spucken und die Künstler das Kommando übernehmen müssen, dann ist es aus. Auf der TSS Atlas war es die für das Entertainment zuständige Pascale, die das Ende einläutete. Täglich hackte sie das Tagesprogramm in die Schreibmaschine: «DER KOMMANDANT, KAPITAN IOANNIS PAPADOPULOS, zusammen mit EPIROTIKI LINES, seine Offiziere und der ganze Besatzung, heissen Ihnen ein herzlicher ‘WILKOMMEN! ’ Der TSS ATLAS ist jetzt Ihre ‘zu Hause’ und es ist unseren erlichste Wunsch, dass Sie jede Stunde an Bord vergnügen. Dass Ihren Kreuzfahrt gemutlicher Relax und bleibende Freundschaft gibt. ‘KALO – TAXIDI’ GUTE REISE!!!!!!!!!!!» Pascale war mit ihrer Sprachakrobatik auf der TSS Atlas das, was auf der Titanic die Bordkapelle war: der Choral der letzten Stunde. Was das Schiff an Freizeitaktivitäten nicht mehr zu bieten hatte, versuchte sie mit Ausrufezeichen wett zu machen. «GRIECHISCHE ABEND mit TANZEN, LIEDER und MUSIKEN aus Griechenland», schrieb sie am Sonntag den 8. Mai: «OPA!!! OPA!!!» Auch sie wusste, dass wir am gleichen Tag die Tür zum Innenpool auf dem untersten Deck aufgestossen und in ein rostiges Loch geschaut hatten, in dem ein Netz und eine weisse Styroporkugel hingen. Es sah aus wie ein verlassener Affenkäfig. Das Bild hat sich tiefer in meiner Erinnerung eingeprägt als das Amphitheater von Ephesos.
Wenige Jahre später wird das Harper‘s Magazine David Foster Wallace – kurz nachdem er sein Buch «Unendlicher Spaß» fertiggestellt hatte – auf einen der neuen Megaliner schicken, auf denen selbst das kleinste Fusselchen, wie er schreibt, keine Überlebenschancen hat. Er wird sagen, dass all diese Kreuzfahrten auf diesen Megalinern etwas unerträglich Trauriges umgeben würde. Sinke Nachts der Spass- und Lärmpegel, befalle ihn ein Gefühl der Verzweiflung und der eigenen Bedeutungslosigkeit: «Sobald sich einmal der Reiz des Neuen und das Erstaunen über so viel Bequemlichkeit gelegt hat, macht sich Enttäuschung breit, Enttäuschung darüber, dass der ganze Aufwand keineswegs persönlich gemeint ist, sondern Teil eines Dienstplans.» Ob er auf der dienstplanlosen TSS Atlas und in den Ausrufezeichen von Pascale Trost gefunden hätte – die Frage stellt sich gar nicht. Als Wallace seinen Bericht schrieb, hatte Carnival die Reste von Epirotiki Line bereits einverleibt.
Der Text ist ursprünglich im Magazin Kinki erschienen: