Das Oktoberfest, oder: Warum sich die Deutschen beim Alkohol einig sind
22. September 2012
herrfischer
Die Deutschen sind nicht die grössten Trinker der Welt. Aber die kollektivsten. Nirgendwo ist die Gruppe derer, die keinen Alkohol trinkt, so klein wie in Deutschland. Ein paar Zahlen…
Pünktlich zum Beginn des Oktoberfests ist im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine grossartige Reportage erschienen. Sie handelt eigentlich von den Wiesnwirten, den Hintermännern der Bierzelte. Nebenbei geht es aber noch um etwas anderes, nämlich unsere Gesellschaft. Deutschland heute.
In der Reportage wagt der Wiesnwirt Ludwig Hagn eine Analyse:
»Vielleicht ist der Erfolg der Wiesn darin begründet, dass wir eine Single-Gesellschaft sind, dass die Familienbildung weiter zurückgefahren worden ist (…) Auf der Wiesn sind sie für ein paar Stunden in einer Gesellschaft, in der alle dasselbe wollen (…)«
Das ist ja eigentlich schon interessant, dass es in einer Gesellschaft ein Etwas gibt, auf das sich alle – wenn auch nur für ein paar Stunden, aber immerhin – einigen können. Und dieses Etwas, das könnte in Deutschland tatsächlich das Bier, bzw. der Alkohol sein. Schauen wir uns ein paar Zahlen an!
(Sie stammen alle von der World Health Organization und haben sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert; Quellenlinks jeweils auf den Grafiken.)
Zunächst: Was trinken die Deutschen? Eine gewisse Tendenz zum Bier ist tatsächlich auszumachen (das Dunkelblaue auf dem Diagramm ist das Bier mit 53% Anteil, etwas heller der Wein mit 27% und hellblau sind die Spirituosen):
Etwas anders sieht es bei unseren französischen Nachbarn aus. Da ist man mehr dem Wein zugetan (62%), aber das dürfte nicht weiter überraschen:
Sind die Deutschen die grössten Trinker auf Erden? Nein. Im Vergleich zu den Nachbarländern und Nationen wie dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten oder Russland sind sie recht durchschnittlich, wie diese Verteilung des Liter-Pro-Kopf-Jahreskonsums (reiner Alkohol) zeigt:
Die Deutschen sind also nicht die grössten Trinker der Welt. Aber sie sind – und da wird es interessant – die kollektivsten. In keinem Land der Welt ist die Gruppe derer, die keinen Alkohol trinkt, so klein wie in Deutschland. Nur gerade 1,7% der Bevölkerung über 15 Jahren hat nie getrunken und nur 2,6% haben in den letzten 12 Monaten nicht mehr getrunken (Frauen und Männer halten sich in Deutschland diesbezüglich die Waage):
Ähnlich tiefe Werte haben sonst nur noch Frankreich und Dänemark. In allen übrigen Ländern sieht es ganz anders aus. Hier zum Beispiel die Niederlande, wo mehr als 11% nie getrunken haben und über 15% nicht mehr trinken:
Ähnliches Bild in der Schweiz:
Oder in Polen:
So oder so ähnlich sieht es in ganz Europa aus. Selbst die angeblich so trinkfreudigen Briten haben einen beachtlichen Anteil an „Teetotallern“ (12,2%), die nie Alkohol getrunken haben:
Noch eindrücklicher ist das Bild bei den Russen:
Und ganz ähnlich bei den US-Amerikanern:
Es scheint also etwas dran zu sein an der These, dass das Bier das ist, worauf sich in Deutschland so gut wie alle einigen können (ob sie alle bereit oder in der Lage sind, für ein Mass fast 10 Euro zu bezahlen, ist eine andere Frage).
Woran es liegt, dass es hierzulande, anders als in fast allen anderen Ländern der Welt, kaum Leute gibt, die gar nicht trinken? Ich hatte schon mit Experten telefoniert, konnte bislang aber keine klare Antwort finden. Ein paar rechtliche Gründe gibt es. In den USA darf man erst ab 21 trinken, in Deutschland schon ab 16, bzw. 18. Aber das allein erklärt nicht die Unterschiede, zumal die rechtliche Lage in den deutschen Nachbarländern ähnlich ist.
Die Frage bleibt vorerst offen.
Lieber Tin,
spannend, herzlichen Dank! Ich weiß aber nicht, ob „die kollektivsten“ richtig ist – das legt ja nahe, dass in Deutschland vor allem (und mehr als anderswo) gemeinschaftlich getrunken wird und das geht aus den Zahlen nicht hervor.
Es passt aber zum Oktoberfest. Als ich vor einigen Jahren als Quasi-Norddeutscher zum erstenmal auf den Wiesn war, hat mich die integrative Funktion des kollektiven Besäufnis beeindruckt: Man wird an einen Tisch gesetzt, begrüßt sich verhalten, stößt an, kommt ins Gespräch, rückt näher – und spätestens bei der dritten Maß steht man nebeneinander auf der Bank und schreit sich Intimitäten ins Ohr (an die man sich am nächsten Tag zum Glück nicht mehr erinnern kann).
Ich nehme an, dass Karneval in NRW ähnlich funktioniert, hier in Hamburg gibt es derartige Volksfeste nicht.
„Integrativ“ ist ein großes Wort, denn viele Menschen sind von dem Besäufnis ausgeschlossen, weil sie sich die Preise nicht leisten können. Aber was Altersgruppen & kulturelle Milieus (über einer ökonomischen Untergrenze) angeht, kommen hier Leute zusammen, die sich sonst nicht viel zu sagen hätten. Ich würde sogar sagen: die sonst gar keine gemeinsamen kulturellen Räume nutzen. Die sich sonst höchstens in der Bahn oder in der Schlange bei der Post begegnen, aber nirgendwo, wo sie sich zueinander verhalten, miteinander ins Gespräch kommen oder gemeinsam genießen würden.
Gesellschaftliche Gruppen, die sich anderwo zunehmend voneinander entfremden finden hier zusammen; Menschen, die sich anderswo nichts zu sagen haben, werden gleich – das ist sozusagen das utopische Potential des Oktoberfests.
Es gibt einen Essay, der Goethe offenbar sehr wichtig war und den er (wenn ich mich nicht irre) als erstes nach seiner Rückkehr aus Italien verfasste: „Das Römische Carneval“. Ich habe es als großen Gewinn empfunden, das zu lesen, inkl. des Nachworts von Siegfried Unseld in der Insel-Ausgabe, das die Entstehungsgeschichte ausleuchtet. Erst war Goethe irritiert davon, dass es beim Karneval in Rom laut, eng, stickig, gefährlich und obszön zuging. Später schwärmte er, „daß Freiheit und Gleichheit nur in dem Taumel des Wahnsinns genoßen werden können.“
Eine zeitgenössischere Verteidigung des kollektiven Rausches hat natürlich Robert Pfaller geschrieben, „Wofür es sich zu leben lohnt“, das vor Kurzem als Taschenbuch erschienen – ausgesprochen lesenswert, wenn auch an manchen Stellen redundant und assoziativ zerfasert (Ein Interview mit Pfaller gibt es dann auch in der nächsten Zeit Campus ;).
Zwei abschließende Vermutungen: Der hohe Anteil der Nichttrinker lässt sich zumindest in den USA sicherlich mit der Religion erklären, non? Mormonen und Muslime trinken gar nicht, allein wegen der U21jährigen, die in Amerika in den Kirchen ja wesentlich präsenter sind, wird zum Abendmahl konsequent Traubensaft eingesetzt (in meiner Congregationalist Church in St. Clair, MI, nicht aus einem großen Kelch sondern lustigerweise aus kleinen Plastik-Shot-Gläsern, aus hygienischen Gründen). Plus: Das Temperance-Movement (wie auch immer das im einzelnen heute noch nachwirken mag) gab es in allen englischsprachigen Staaten, aber soweit ich weiß nicht in Deutschland.
Hey oskar, vielen dank für die lektüretipps (der pfaller liegt bereits auf dem „read later“-stapel, auf das interview bin ich gespannt) und herzlichen dank für die anschauliche festhüttenbeschreibung (als einer der wenigen, die keinen alkohol trinken, bleibt mir der zutritt auf deutschlands bierbänke leider stets verwehrt).
Zu den zahlen:
Die temperance-bewegung hat sicherlich einen gewissen einfluss auf die hohe zahl der abstinenten in ländern wie den usa oder grossbritannien. Aber erklären kann sie den massiven unterschied zu deutschland nicht. Schliesslich haben länder wie italien und spanien einen genauso hohen anteil an abstinenten wie grossbritannien. Und die sind nicht für enthaltsamkeitsbewegungen bekannt.
Auch ein blick auf die liste bekannter teetotaler http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_teetotalers legt nicht unbedingt den schluss nahe, dass vor allem leute auf den alkohol verzichten, die sich als erbe (selbst entfernte) dieser bewegung sehen.
Und auch die religion kann das phänomen nur bedingt erklären. Der anteil muslime ist in deutschland ja nicht massiv kleiner als in anderen europäischen ländern (er ist mit 5% sogar grösser als der anteil der abstinenten an der deutschen gesamtbevolkerung).
Aber wir werden bestimmt noch eine erklärung finden, ohne gleich wieder den deutschen vereinsmeier bemühen müssen, dem sich hierzulande (man hört das ab und zu) jeder zu beugen hat.
Mit deinem einwand zum begriff „am kollektivsten“ hast du wahrscheinlich recht. Da muss noch ein besseres wort her. Es sei denn, es stellt sich noch heraus, dass in deutschland tatsächlich deshalb alle trinken, weil hier vor allem in bierzelten und auf bierbänken getrunken wird. Das geht wirklich nur kollektiv.
(auf meinem ipad getappt)